Numeri 21,4-9 | Göttinger Predigten im Internet (2024)

Liebe Gemeinde,

Der Predigttext für den heutigen Sonntag, den wir eben
gehört haben, berichtet von einem Zwischenfall während der so
genannten Wüstenwanderung der Israeliten. Zur Erinnerung: Mose hatte das
Volk Israel aus der ägyptischen Sklaverei befreit und an seiner Spitze den
Weg in das Gelobte Land angetreten. Aber dieser Weg in das verheißene
Land, in dem Milch und Honig fließen sollten, hatte sie zunächst in
die Wüste geführt. Statt Überfluss zunächst Entbehrungen
und Strapazen. Statt der erhofften Freiheit ein Katalog von 10 Geboten, den
Mose auf 2 Tafeln von seiner Begegnung auf dem Gottesberg zurück brachte.

Sicher, es war auf wunderbare Weise immer wieder weiter gegangen,
so aussichtslos die Lage manchmal auch erschienen war. Wasser war
plötzlich aus den Felsen gesprudelt, als ihr Vorrat zu Ende war, und
Nahrung lieferte ihnen das wundersame Manna, jene Körnerspeise, deren
Ursprung sie sich nicht erklären konnten.

Doch auf Dauer verlieren auch Wunder ihren Reiz, wenn sie zur
täglichen Gewohnheit werden. Denn eine lange Zeit waren sie schon
unterwegs – von fast 40 Jahren sprechen die Überlieferungen. Selbst wenn
man die Erzählfreude der Orientalen und ihren Hang zu Übertreibungen
berücksichtigt, so ist doch gewiss, dass es sich um eine sehr lange
Zeitspanne gehandelt haben muss.

Jeden Tag Manna – da vergoldet die Erinnerung sogar die Zeit der
Zwangsarbeit für den ägyptischen Pharao. „Zurück zu den
Fleischtöpfen Ägyptens!“ wieder einmal wird der Ruf laut, der
stets in solchen Situationen zu hören war. „Warum habt ihr uns
hierher geführt“, murren die Unzufriedenen, und sie fragen Gott und
Mose gleichermaßen, „sollen wir in der Wüste sterben?“

Verdrängt haben sie die Schikanen der Aufseher Pharaos,
vergessen sind die Schindereien und die Willkür jener Zeit. Sicher, es war
manchmal hart, sagen viele, aber man wusste doch wenigstens, woran man war.
Aber hier – diese nicht enden wollende Wanderung durch die Wüste in der
zweifelhaften Hoffnung auf eine bessere Zukunft?

Ihre Geduld war – wieder einmal – am Ende. Sie sahen den Sinn des
ganzen Unternehmens nicht mehr ein. Mose schwieg zu ihren Vorwürfen. Er
hatte so eine Ahnung, dass bald etwas geschehen würde. Im Laufe der Zeit
hatte er sozusagen eine Art sechsten Sinn dafür bekommen. Und jetzt sagte
ihm sein Gefühl: bald wird etwas passieren!

Er hatte sich nicht getäuscht. Diesmal ist es eine
Schlangenplage, die die Israeliten mitten in ihren Grundsatzdiskussionen und
Debatten überrascht. Und sogleich dreht sich die Stimmung im Lager um 180
Grad. Kaum dass die ersten Toten zu beklagen sind, die an Schlangenbissen
starben, kommen sie in Scharen. „Mose, du musst uns helfen. Du hast doch
ein besonderes Verhältnis zu unserem Gott. Du musst für uns beten. Es
tut uns ja alles so leid.“

Und Mose? Ergreift er die Gelegenheit, eine flammende
Bußpredigt zu halten? Entlädt er gar seinen Zorn über ihren
Kleinglauben in furchtbarem Strafgericht wie seinerzeit, als sie um das Goldene
Kalb getanzt waren?

Nein. Mose tut, worum sie ihn bitten. Er betet für das Volk.
Er hat in den Jahren in der Wüste wohl gelernt, diese Menschen zu
verstehen. Vielleicht hat er auch bei sich selbst Zweifel entdeckt, die denen
gleichen, die die anderen plagen. Vielleicht hat er dabei gespürt, dass
der Zweifel allein nicht schon Sünde sein muss. Im Gegenteil, dass dieser
Gott, der immer unsichtbar und doch stets nahe ist, auch den Zweifel
zulässt.

Deshalb betet er jetzt für das Volk. Und Gott gibt ihm
Antwort. Eine klare Anweisung. Mose soll ein Symbol der tödlichen
Bedrohung anfertigen, ein Schlangenbild aus Eisen, und er soll es vor aller
Augen aufstellen. Wer davor die Augen verschließt, die Gefahr nicht wahr
haben will, dem ist nicht zu helfen. Die Menschen aus dem Volk, die weiterhin
entweder in nostalgischem Selbstbetrug oder in Träumen vom künftigen
Schlaraffenland leben, können mit dem Bildnis nichts anfangen.

Die anderen aber, die das Bildnis der Schlange ansehen, sind auf
die drohende Gefahr vorbereitet. Selbst wenn sie gebissen wurden, heißt
es, blieben sie am Leben. Sie versuchten nicht, die Bedrohung aus ihrem Leben
zu verdrängen, sondern erkannten, dass Leiden, Krankheit und Tod ebenso
Bestandteile der menschlichen Existenz sind wie Glück, Freude und
Gesundheit. Und sie sahen daran, dass der Gott, der sie befreit hatte, nicht
nur ein Gott für die angenehmen Seiten des Daseins war. Sondern ein Gott,
der auch in der Bedrohung und im Leid nahe ist.

Die Geschichte mit dem Bildnis der eisernen Schlange hat mich an
ein anderes Bildnis erinnert. Es ist auch ein Zeichen, das mit dem Tod zu tun
hat, und das dennoch immer wieder Menschen zum Leben aufrichtet. Es ist das
Bild des gekreuzigten Jesus. Und ich erinnere mich an die Frage: wie kommt ihr
Christen eigentlich dazu, euch so ein grausames und tödliches Bild in die
Stätten eurer Andacht zu stellen? Die Darstellung eines Menschen, der
hingerichtet ist, als Symbol der Gottesverehrung? Auf dem Altar? Oder in
Klassenzimmern, aus denen es manche am liebsten für immer verbannt
sähen?

Die Antwort?

Weil unser Gott den ganzen Menschen kennt. Nicht nur seine guten
Seiten, sondern auch das Dunkle, das er in sich trägt. Er stellt mir
Forderungen, aber er kennt auch meine Grenzen. Die Kluft zwischen Gottes
Anspruch auf mein Leben und meinen eigenen Unzulänglichkeiten hat Jesus
Christus in seiner Passion, in seinem stellvertretenden Leiden und Sterben
überwunden. Sonst hätten wir eine Welt voller gescheiterter,
verlorener Menschen, weil sie dem Anspruch Gottes nicht genügten, so sehr
sie sich auch bemühten.

Christen dagegen leben aus der Vergebung. Sie brauchen nicht mehr
zu scheitern an der Erfahrung, dass sie bei aller eigenen Mühe doch immer
wieder verzagt, ungläubig und kraftlos werden. Das Kreuz ist das Zeichen
des Vertrauens darauf, dass der, der gekreuzigt wurde, mir vergibt und mich so
immer wieder neu stärken und mir Kraft und Hoffnung geben will.

Amen.

Peter Kusenberg, E-Mail:peter.kusenberg@kirche-erbsen.de

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